Pahaschi Blog
Berichte aus der Welt der Psychiatrie




30 Jahre mit der Krankheit

Written by Bodo on 25. Oktober 2018 – 13:43 -

Als sich im Herbst 1988 bei mir die ersten Symptome der Erkrankung zeigten, die von Medizinern gemeinhin als paranoide Schizophrenie bezeichnet wird, war mir noch nicht bewußt, was das für mein Leben bedeuten wird. Ich steckte voll drin in einer wirren und phantastischen Geschichte von Liebe, Verführung und politscher Verschwörung. Am Ende ging es um das Schicksal der gesamten Welt, das nur von mir allein abhing und meiner Standfestigkeit. Mit sechs Einzeltherapien von leichten Stromflüssen durch das verwirrte Gehirn, ordneten sich wieder die Gedanken und Empfindungen und man war wieder ein bewußter Teil dieser Gesellschaft.

Ein Jahr später hatte die Gesellschaft die Schnauze voll von stalinistischen Politgreisen und schickte selbige in die Wüste. Doch statt einer eigenen Idee wurden die bewährten Prozeduren der Brüder und Schwestern westlich der Elbe und südlich des Fichtelgebirges übernommen. Und die Aluchips wollte auch keiner mehr haben. So kam es zur Währungsreform im Sommer 1990, die das Aus für die meisten wirtschaftlichen Gebilde im Osten bedeutete. Millionen kamen auf die Straße und in Schulungs- und Beschäftigungs- maßnahmen. Und man musste lernen, sich zu bewerben und sich zu verkaufen.

Ich hätte im Jahre 1992 durchaus Chancen gehabt, wenn die Krankheit nicht gewesen wäre. Zum einen wurden die Arbeitgeber mißtrauisch wegen des Schwerbehindertenausweises und zum anderen belasteten mich die ständigen Bewerbungen enorm, bis es wieder zur Krise kam. Eigentlich waren es mehr körperliche Symptome: man fühlte es im Kopf, in der Brust, am Hals – ein Ziehen und Stechen. Selbst das Schauen in den Raum und Zeitungslesen taten weh. In der Art krank zu sein, war an Arbeit nicht mehr zu denken. Ich musste Rente beantragen. Das war ein Jahr später.

Man bekam zwar nicht viel, aber zum Leben reichte es. Die Hauptsache war, daß man den Tag gestalten konnte, die Woche und die Monate: mit Einkaufen, Wäsche waschen, Essen kochen, Wohnung putzen, fernsehen, S-Bahn fahren, Eltern besuchen, Gassigehen und dem Besuch einer Beschäftigungsstätte für psychisch Kranke. Auch wenn man so aus dem Psycho-Umfeld nicht ausbrechen konnte, war es eine wichtige Stabilisierung und ein Sicherheit bietender Rhythmus.

Das Internet kam auf und man las von anderen Betroffenen von anderen Kontinenten. Mit einer eigenen Homepage zu diesem Thema meldeten sich viele deutschsprachige Betroffene und berichteten von ihren Sorgen und von ihren Erfolgen. Es wurde von 1998 bis 2006 ein richtiges belebtes Internet-Forum, das verschiedenste Aspekte dieser und anderer seelischer Erkrankungen aus der Patientenperspektive beleuchtete. Die Betroffenen wurden Experten der eigenen Erkrankung. Da es mit einiger Arbeit verbunden war und ich nun, in Bayern verheiratet und mit Pflichten eines Ehemanns gegenüber einer ebenfalls seelisch erkrankten Gattin ausgestattet war, musste das Forum leider seine Arbeit einstellen. Es wurde nun ein Blog daraus, mit sporadischen Einträgen – so wie man gerade Zeit und Energie hatte.

Viele Besucher der Seite wünschten sich die Tagebuchgeschichte in Buchform und auch ich selber war mir nicht sicher – immerhin stand man mit 45 schon mit einem Fuß im Blumenbeet – wie es mit der Homepage weitergehen würde. So wurde also ein Print-On-Demand-Titel daraus, der das Budget nicht sonderlich belastete und der nun schon in der 4. Auflage erhältlich ist. Dies bedeutet allerdings nicht hohe Verkaufszahlen, sondern daß der Text einen Reifungsprozess erfahren hat. Mit der Zeit konnten neue Aspekte aufgenommen werden. Für die Interessierten: „Tagebuch einer Psychose – Einblicke in die Welt des Wahns“, BoD, Januar 2017.

Doch manche Ehen währen nicht ewig, so auch unsere nicht. Das meiste Hab und Gut, sämtliche Zeugnisse und Urkunden zurücklassend, machte sich der Berliner wieder auf den Weg in die Heimat, die ihn schon in seinen Träumen verfolgte. Die Eltern waren froh über die Heimkehr des verlorenen Sohnes und auch sein alter Sportclub konnte wieder auf ihn zählen. Und trotzdem war es eine sehr schwere Zeit: die Trennung, die Wohnungssuche, die Neueinrichtung, neue Freunde und neue Beschäftigungen – dazu den Haushalt und die Versorgung alleine stemmen. Das war schon sehr kräftezehrend. Gut, daß man sein Mittelchen hatte, das man bei Bedarf etwas erhöhen konnte.

Nun ist man schon mitten in den Fünfzigern und lebt schon 30 Jahre mit dieser Krankheit, von der sich die meisten Menschen überhaupt kein Bild machen können. Das Wort „Schizophrenie“ müsste eigentlich abgeschafft werden. Es ist nicht sehr vertrauenserweckend. Besser wäre: „seelische Belastungsstörung“. Das trifft die Problematik der Erkrankung präziser.

Wie geht man nun mit der verminderten Belastbarkeit um? Auf alle Fälle hilfreich ist es, ein Tagebuch zu führen. Dazu reicht ein kleiner Wochenkalender, in den man am Ende des Tages die täglichen Gänge und Arbeiten einträgt. Dann ermittelt man am Ende der Woche, oder schon vorausschauend, die Anzahl der Belastungsstunden. So konnte ich feststellen, dass meine Belastungsgrenze bei 15 Stunden in der Woche ist. Darüber fährt man auf „Notstrom“ und darunter erholt man sich wieder. Das Optimale, habe ich nun festgestellt, sind 10 Stunden. Nun kommt es auf die Einteilung an: Entweder hat man täglich mit zwei Stunden Dingen außer der Reihe zu tun, oder man hat an einem Tag etwas größeres vor, das vielleicht 6 Stunden dauert. Dann heißt es, zwei Tage sich Ruhe gönnen!

Eigentlich sieht man es schon im Spiegel, ob man zuviel gemacht hat oder nicht. Nach zwei Tagen Stress nähert sich das Gesicht einer Maske, ohne Freude und Gelassenheit, während nach zwei Tagen Ruhepause sich das Gesicht deutlich entspannt und sogar gelächelt werden kann. Es liegt nur an der Menge der Belastung. Also ganz klar eine Belastungsstörung. Damit wir im Leben überhaupt etwas unternehmen können, brauchen wir die Hilfe von Medikamenten, die uns ein etwas dickeres Fell geben, damit uns Kleinigkeiten nicht gleich umhauen. Wir leben hier auf dieser Erde schließlich nicht im Paradies. Jeder Tag hat seine Aufgaben und Pflichten.

Nach 30 Jahren Erfahrung mit seelischer Erkrankung, nach 25 Jahren der Trennung vom Arbeitsmarkt, nach 20 Jahren Betroffenenarbeit und nach 10 Jahren Ehe mit einer ebenfalls Erkrankten, sind nun wieder 6 Jahre Singledasein ins Land gegangen, die aber keinesfalls Langeweile bedeuten. Man hat jeden Tag, jede Woche genug zu tun – man muss sich eher bremsen – und am Ende des Jahres gibt es beim Resümee kein Grund zu klagen. Wieder ein Jahr voller Beschäftigung und neuer Erfahrungen. Dank der Solidarität dieser Gesellschaft, die auch kranken Mitmenschen ihren Platz im Leben lässt.

Bodo Bodenstein



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