Endlich wieder in Berlin! Lange geplant, musste man sich auf diesen Tag gut vorbereiten. Neun Stunden Aktion sind sonst nicht so leicht wegzustecken. Drei Tage vorher Ruhe, und drei Tage werden es danach sein. Eigentlich war das Stadtschloß schon vor drei Wochen fällig, an dem Tag als Richtfest gefeiert wurde, mit einem schwebenden Kranz über der riesigen Kuppel, die in Barockfassade gekleidet, wieder ein Glanzpunkt der Stadt werden soll. Aber vor drei Wochen ging es mir nicht so gut. Spannung im Kopf, die Dosis erhöht, überlastet vom Ausflug nach Frankfurt-O, war es doch besser, zuhause zu bleiben. Aber nun war Berlin fällig! Ich musste ja auch zum Doc, mir wieder mein Glückspillenrezept verschreiben lassen. Wie gut, daß mich in unserem Provinznest kein Arzt haben wollte. Nun habe ich immer einen Vorwand, in mein Berlin zu fahren. Und einen Antrieb. Ich werde nie enttäuscht. Kurz nach fünf werde ich schon wach. Die Sonne scheint schon und die Nacht war erholsam, weil auch noch ziemlich frisch. 11 Grad sinds noch draußen, 28 Grad sollen es werden; es wird ein strahlender Sommertag mit keiner einzigen weißen Wolke am Himmel. Sonnencreme ist angesagt, denn der trockene Ostwind treibt den UV-Faktor hoch. Heute mal ein Frühstücksei, das muss sein! Alles bereit legen und sämtliche Jacken- und Hosentaschen füllen mit notwendigen Utensilien. Die 15 min vorm Losgehen sind die kritischsten des ganzen Tages. Im Bus lässt die Anspannung schon nach, unterwegs zum Bahnhof. Der Bahnsteig rappevoll, aber alle bekommen Platz im Zug, nur die meisten Bernauer nicht, die dürfen stehen. Na ja, die 10 min sind zu verkraften. Gesundbrunnen: Oben gibts ein neues SANITAIR, was gleich ausprobiert wird. Schrecklich, das Kleingeld kramen zu müssen, wenn die Blase drückt. Die Automatenschleuse lässt mich durch. So jetzt kanns weiter gehen. Mal mit dem Lift nach unten zur U-Bahn! Das war elegant, das muss ich mir merken ... Die U8 kommt sofort, nicht voll, aber ich bleibe stehen. Genug gesessen. Die Damen der Menschheit sind heute aber sehr locker gekleidet. Zu einem Flirt taugt es diesmal nicht, dafür schaue ich einem Jungen zu, wie er seine Comic-Helden-Kartensammlung mischt. Na, in fünf Jahren wird er an so einem Tag ganz woanders hinschauen ... Die U-Bahn ist schnell da, aber der Bus will nicht kommen. Also das Stückchen laufen und schnell zum ALDI rein für ein paar Mitbringsel. Das Tantchen liegt im Bett und erkennt mich nach drei Sekunden. Setzt dich hin, leg deine Jacke übern Stuhl. Trudchen, ich hab hier was für dich. Ja, stell auf den Tisch. Wie geht es dir? Na ja, ich liege nur hier im Bett. Was macht die OP? Ach, ich weiß gar nichts. Wo tut es denn weh? Ach, mir tut alles weh. Trudchen ist aber viel, viel besser drauf, als noch vor ein paar Wochen, wo man schon in jedem Moment dachte: So, das wars jetzt. Ihr Gesicht sieht lebendiger aus, sie kann auf der Seite liegen und sich umdrehen, wenn sie will. Sie kann alleine, mit dem Rollator, zur Toilette, und sagt auch schon wieder bestimmt, wenn ihr etwas nicht passt. Die Schwesterm schwärmen trotzdem von ihr: Sie ist sooo lieb! Obwohl sie auch anders kann ... Das bekomme ich auch recht schnell mit, aber das Tantchen ist wirklich zivilisiert und es bleibt alles im Rahmen. Mutter sagt später nur dazu: Sie ist ja nicht dumm, sie ist auf Hilfe angewiesen. Ach, das ist Schwesternliebe aus dem Bilderbuch! Ich bleibe nicht lange und überlasse Trudchen wieder ihren Gedanken, Gedanken an früher und ihr Leben, in meinem Leben kommt gleich der Bus, denn ich mag nicht mehr zurücklaufen. U-Bahn mit slawischer Gitarreneinlage, eine Frau singt dazu. Wat soll denn dat Jejaule, tönt es von hinten. Ein Blinder hört die Ansagen nicht mehr und fragt, wo bin ich denn jetzt? Er muss raus am Bahnhof Alex, genau wie ich. Ein Pulk von Jugendlichen vor mir hoch zur S-Bahn. Braungebrannte Mädchenbeine! Ich biege ab zur Galeria, wo mich mein warmes Gemüse erwartet. Nicht viel, aber 4 EUR. Ich sage zum Kassierer, früher habe ich das in D-Mark bezahlt. Wem sagen Sie das, hören Sie bloß auf! Es schmeckt aber. Was für den Bauch, man muss ja durchhalten. Am Nebentisch feiert wieder die angestammte Rentnergang irgendein Jubiläum. Ich sehe sie immer wieder. Ich könnte wetten, die waren früher in einem DDR-Ministerium ein gutes Kollektiv. Oder irgendein Kombinat, damals, als Berlin noch eine Wirtschaft hatte. Heute lebt Berlin von Immobilien und von den Touristen. Und von den Migranten. In den 100er steigt am Neptunbrunnen eine ganze Schulklasse ein, schätze 4. Klasse. Fast alles Migrantenkinder, ganze zwei einheimische. Na ja, die braunhäutigen Mädchen sind ja auch einheimische, Berliner Kinder. Sie sprechen akzentfrei Deutsch und wollen zum Reichstag. Ich setzte mich rechts ans Fenster und mache Platz für ein kleines Mädchen. Ist das der Reichstag? Nein, das ist das Alte Museum. Wird da die Stadt gezeigt? Nein, da sind Maler drin. Schaut mal, dort drüben wird das Schloß wieder gebaut! Damit können sie gar nichts anfangen. Und ich habe Mühe, von meinem Platz die Kuppel überhaupt zu sehen. Mit dem Bus, das taugt nicht viel. Die Lehrerin: Dort vorne kommt das Brandenburger Tor! War hier die DDR? Kennen Sie die DDR? Die Lehrerin: Nein, damals war ich gerade fünf. Ein orientalisches Mädchen: Oh, ich kann das Brandenburger Tor sehen, ohhh, das erste Mal ... Die Kinder sind völlig aus dem Häuschen. Dann biegen wir zum Reichstag ab und ich sage dem Mädchen neben mir, vor 20 Jahren war hier eine große Kunstaktion, der ganze Reichstag war mit einer silbernen Folie bedeckt. Vor zwanzig Jahren ... damit kann das achtjährige Mädchen nichts anfangen. "Hier hat es doch mal gebrannt ..." Ach ja, das ist schon seeehhhr lange her. Gar nicht mehr wahr ... Sie wollen auf die Kuppel über dem Parlament. "4d, ALLE AUSTEIGEN!!!" Und das Mädchen freut sich darauf, den Politikern von oben auf die Köpfe zu schauen. Wenn sie denn mal da sind ... Der Bus kommt endlich schneller voran und durch die geöffneten Fenster kommt etwas Erfrischung. Eine italienische Familie ist hinter mir hörbar, sie palavern ohne Pause, ohne sich wirklich für die Stadt zu interessieren. Außer beim Schloß Bellevue, da hört man ein CASTELLO. Die Polizisten räumen Absperrgitter weg und nach dem Großen Stern steht der Bus wieder im Stau. Nach einer Ampel geht es zügig weiter, schon ist man am Elefantentor des Zoologischen Gartens, am Breitscheidtplatz, am neuen Bikinihaus, am Zoopalast und finito: Bahnhof Zoo, bitte alle aussteigen! Jetzt folgt der eigentliche Höhepunkt des Tages: Wundervolle riesige Fotografien der unberührten Flecke der Erde: Antarktis, Neuguinea, Afrika, die Arktis und Amazonien. Natur, Landschaft, Wolken, Tiere, Menschen - wie am ersten Tag der Schöpfung ... Ein genialer Künstler! Das Buch zur Ausstellung wiegt mindestens 5 Kilo. Untragbar. Der Preis wäre noch grenzwertig, aber das Gewicht, für diesen Sommertag? Gibts das auch im Buchhandel? Excuse me? Nochmal ... Ja, ja natürlich, sagt die Dame mit amerikanischem Akzent. Vielleicht zu Weihnachten? Das würde passen. Kaffee und Kuchen! Ohne das geht es nicht. Man muss ja durchhalten, und zum nächsten Termin. Im c/o ist ein kleines Café, wunderbar, auch eine Toilette, noch wunderbarer. Ohne Automaten-Sperranlage. Mir wird schlecht, wenn ich daran denke. Wie krank ist nur die Welt? In der GALERIA war alles offen, und es gab nur ein kleines Tellerchen, für den, der sich bedanken wollte. Für die Migrantinnen-Toilettenfrauen ... Nein, nicht wieder U-Bahn! Diesmal die große Runde mit der Rotgelben über Tiergarten, Hauptbahnhof, Friedrichstraße und Alex. Ganz kurz konnte ich die Schloßkuppel in der Ferne erspähen. Das gibt eine neue Shilouette! Also zum Schloß im September, versprochen ... Es gibt eine Trompeteneinlage mit Tonbandmusik, und diesmal sind 50 Cent fällig. Es hat schon was von Nötigung. Derweil fährt die S-Bahn am Märkischen Museum vorbei, Ostbahnhof, zum Ostkreuz. Der Schriftzug der O2-World wird demontiert, nanu? Auf dem Ostkreuz bemerke ich eine sehr feine Dame auf dem Bahnsteig, leider in Begleitung. Die wäre zu gut für dich gewesen, rede ich mir ein. Offenbar eine Italienerin. Eine feine Dame! Die S-Bahn fährt an meinem alten Betrieb vorbei, den es leider nur noch in den ewigen Jagdgründen gibt, und nimmt Kurs auf Plänterwald, Baumschulenweg und Schöneweide, von Nicht-Schöneweidern Schweineöde genannt. Früher, vor dem Mauerfall, duftete hier es immer nach Schokolade. Der Westwind wehte von der Neuköllner Sarotti-Firma herüber, so süß, so schwer. So roch der Westen im Ostberliner Stadtteil Treptow. Ich kaue Kaugummi. Eine kurzblondige Frau gegenüber entfernt kaut auch Kaugummi. Sie bemerkt es auch. Auch so ein Käseweiß wie ich, denke ich. Sie steigt in Schweine... pardon Schöneweide aus, und nun bin ich auch gleich da. In der Passage sieht es trostlos aus. Die meisten Geschäfte stehen leer. Übrig geblieben sind nur der Supermarkt, Rossmann, ein Geizladen, die Apotheke und das Eiscafé. Mein VENEZIA ... Diesmal nur eine Kugel Schoko, ich wurde ja schon versorgt. Die Fotos von Rossmann und eine kleine Flasche Wasser dabei, bringt mich die Straßenbahn auf die andere Seite, die Boomtown von Adlershof, die Wissenschaftsstadt. Die Sonne knallt gnadenlos, aber meine Mütze hält stand. Dafür muss ich eine Treppe laufen, denn der Fahrstuhl spinnt wieder und ich passe nicht auf. Schwester Susen ist entspannt, der Doc auch, und nach vier Minuten bin ich wieder draußen, vom Doc. Vorher 30 min warten, alles im grünen Bereich. Der Doc macht Urlaub im Garten, wie immer. Zu Fuß zurück zur S-Bahn. Ein Foto von den Wiesenkräutern? Was solls. Knips. Dafür fährt mir eine S-Bahn vor der Nase weg. Was solls ... Also über Südkreuz nach Hause. Eine dralle Blondine macht mir in der Bahn Platz. Beine! Übereinandergeschlagen! Ich weiß gar nicht, wo ich hinschauen soll. Sie liest in Unterlagen. Wahrscheinlich ein Sprachkurs. Ich nehme mir zur Not mein Smartphone und rechne aus, wie weit mein Rezept reicht. Das hilft einstweilen. Und ich schaue aus dem Fenster, wie Neuköllner Häuserwände und Büsche vorübergleiten. Hermannstraße. Die Beine steigen aus. Mit ihr eine Freundin, slawisch sprechend. Das wäre geschafft ... Vielleicht doch lieber eine Burka? Wenigstens im Sommer ... ? Jeder Mann könnte wohl ein Buch schreiben: Die Versuchungen der Großstadt! Südkreuz. Eine neue stylige Postkarte, die geht noch. Zum Verschenken? Ich sage, da haben Sie ja hier ganz was Neues. Die Verkäuferin: Na ja, irgendwann wirds auch langweilig, dann kann man es nicht mehr sehen. Postkarten mit Metallic-Struktur der Gebäude. Cool. Ach was, die ist für mich!
Runter auf den Bahnsteig, der sich langsam füllt. Hier unten, tief im Schatten, weht eine angenehm kühle Brise. Immer mehr Reisende oder Pendler kommen. Ich gehe weiter nach hinten und da kommt schon der Zug. Drinnen totale Sauna. Die Mini-Kippfenster bringen keine Kühlung, und so schwitze ich auf 70 Kilometern der Provinz entgegen. Im Provinzbus funktioniert aber dafür die Klimaanlage. Eine elektrischer Provinzbus, der die Ressourcen dieses Planeten schont. Damit die unberührte Natur der Welt unberührt bleibt - wie am ersten Tage der Schöpfung ...
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